DAS KÖRPERLICHE SEHEN.
Von Otto Sebaldt.

“Trinke, Auge, was die Wimper hält, von dem goldnen Überfluß der Welt!" Mit also glühenden Worten feiert der Dichter das Glück, alle Schönheit der Welt mit durstigen Augen in sich aufnehmen zu können. Und was hat unsere Zeitschrift von jeher eindringlicher zu lehren versucht als die Schönheit der Welt und in ihr wiederum das Vollendetste, den menschlichen Körper (sofern er in unserem Sinne gepflegt ist) so zu betrachten, daß der Anblick uns ein Fest werde? Die Schönheit in ihrer vollen Körperlichkeit zu „umfassen", ist Glück und seelischer Gewinn. In der Regel ist nur dem bildenden Künstler dieser vollkommene Genuß vorbehalten, weil er kraft seiner Anlage und jahrelanger Übung des Auges gelernt hat, die Welt und ihre Wunder so in sich aufzunehmen, daß er gleichsam eins mit ihr werde. Nun wollen aber auch wir jedem empfänglichen Menschen die Mittel in die Hand geben, neben der sinngemäßen Ausbildung seines Körpers in seelischer Beziehung gleichfalls sich höher hinaus zu entwickeln, indem er eine „Weltanschauung" im wörtlichen Sinne sich zu eigen mache, die ihn befähigt, das Weltbild vom künstlerisch-ästhetischen Standpunkt aus zu betrachten. Steht nun schon, was rein formale Schönheit anbelangt, die Plastik als dreidimensionale Verkörperung über der Malerei, so wäre in unserem Falle das stereoskopische Bild der rein photographischen Aufnahme überzuordnen. Die geistvolle Erfindung der Stereoskopie ermöglicht es also, Höhe, Breite und Tiefe einer Erscheinung zu umfassen und als ein einheitliches Bild, das der Wirklichkeit unbedingt am nächsten kommt, vor uns erstehen zu lassen. Daß bei dieser Art der Betrachtung eine stärkere, der Phantasie zu Hilfe kommende Form künstlerischen Erlebens ausgelöst wird, dürfte auf der Hand liegen. Am eindrucksvollsten erscheint nun die stereoskopische Betrachtung des menschlichen Körpers. Zwar sind gerade auf diesem Gebiete noch bemerkenswerte Lücken aufzuweisen, da gute stereoskopische Aktaufnahmen noch zu den Seltenheiten gehören. Hier wird es unsere Aufgabe sein, einzugreifen und für ein erstklassiges Material Sorge zu tragen. Als vortreffliches Anschauungsmittel für jedermann, auch für Schüler, ganz besonders wertvoll, ermöglicht die Stereoskopie in Form des Stereo-Metall-Betrachters im Taschenformat (Abbildung und Beschreibung siehe S. 40/41), bei denkbar geringsten Anschaffungskosten, sich reichhaltige Anregung und Belehrung zu verschaffen.
Wir raten allen unseren Freunden, sich mit der Stereoskopie näher bekannt zu machen, die in den letzten Jahrzehnten zu Unrecht in den Hintergrund getreten war und vielfach nur noch als ein „veraltetes" und „überlebtes" Belustigungsmittel unserer Großeltern mehr als ein Kuriosum denn als ein ernstzunehmender Bildungsfaktor betrachtet wurde. Zumal jetzt, da zum ersten Male die Möglichkeit, gute und preiswerte Aktaufnahmen sich plastisch vor Augen zu führen, geboten ist, sollte kein Schönheitsfreund an dieser neuerstandenen Erfindung auf photographischem Gebiete achtlos vorübergehen.

Aus KAMERA und PALETTE III, Seite 36. Verlag der Schönheit, Dresden. 1927. (© Text überarbeitet von D. Schulte)