Das Leica Stereo-System
Dr. Ing. Felix Marmet

Eine Kleinbildkamera vom Range der Leica mußte, falls sie wirklich für universelles Arbeiten bestimmt sein sollte, auch die Möglichkeit zur Herstellung plastischer Bilder bieten. Das ist noch nicht hinreichend allgemein bekannt, und mancher Liebhaber stereoskopischer Bilder glaubt auf die überzeugenden Vorteile verzichten zu müssen, die eine kleine, stets schußbereite Kamera mit 36 Aufnahmen auf Kinonormalfilm und gekuppelter, d. h. automatischer Scharfeinstellung gerade auch für Stereointeressenten bieten könnte. Diese Wünsche sind bei der Leica durch das gut durchdachte Stereo-Vorsatzgerät „Stereoly" erfüllt. Es wird mittels eines besonderen Zwischenstückes vorn in die Klemme für den Entfernungsmesser eingeschoben und durch eine Hebelschraube festgeklemmt. Der Vorsatz selbst kann ohne alle Schwierigkeiten z. B. zum Zwecke der Blendenregulierung von dem schwalbenschwanzförmigen Ende des Zwischenstückes abgenommen werden. Beim Aufschieben wird gleichzeitig für den richtigen Bildausschnitt gesorgt, indem bei den älteren Ausführungen eine Vorschaltblende das Gesichtsfeld zur Hälfte abgrenzt, während die neuen Zwischenstücke einen besonderer, optischen Sucher tragen. Der Vorsatz paßt zu allen Objektiven mit der Brennweite von 5 cm: Elmar F/3,5; Hektor F/2,5; Summar F/2.

An sich ist nun bekanntlich das Prinzip, ohne zeitliche Parallaxe mit einer einäugigen Kamera in Verbindung mit entsprechend konstruierten Vorsätzen Stereoaufnahmen herzustellen, keineswegs neu. Der beachtliche Fortschritt beim Leica-Zusatzgerät besteht jedoch darin, daß mit Hilfe einer neuartigen Prismenkonstruktion die Nachteile älterer Anordnungen dieser Art, die meist mit Spiegeln arbeiten, praktisch ausgeschaltet sind und damit die hervorragende optische Leistungsfähigkeit der Objektive hinsichtlich der Lichtstärke bei Freihandaufnahmen oder Aufnahmen unter ungünstigen Beleuchtungsbedingungen und hinsichtlich der Qualität der Bildzeichnung ausgewertet werden kann; dabei ist die Abgrenzung der beiden Teilbilder von der Blendengröße völlig unabhängig.

Durch eine einzige Belichtung werden auf dem Format 24 x 36 mm mit fast unsichtbarer Trennungslinie die beiden Teilbilder erzeugt, jedes im Hochformat 18 x 24 (Normalkinoformat). Der Belichtungsverlängerungsfaktor ist infolge zweimaliger Ausnutzung des Prinzips der Totalreflexion recht niedrig und von der relativen Öffnung abhängig; er schwankt zwischen 1,5 bis 50 % bei den Abblendungsgraden bis F/9 und 1,1 bis 10% bei F/12,5 bis F/18. Diese Verlängerung spielt bei der heutigen Lichtempfindlichkeit auch feinkörniger panchromatischer Emulsionen keine wesentliche Rolle, erlaubt andererseits eine beträchtliche Abblendung (F/6,3 bis F/12,5), die mit Rücksicht auf große Tiefenschärfe bei Stereonegativen ja immer sehr erwünscht ist. Die geringste zulässige Objektentfernung beträgt 1,25 m.
Das Arbeiten mit dieser leistungsfähigen Kamera ist einfach und gewährt alle Vorteile, die dem Kleinfilmverfahren an sich eigen sind. Zur Aufnahme sind ausgesprochen feinkörnige Emulsionen zu verwenden, da sich das Korn grobkörniger Negative trotz feinkörnigen Positivmaterials überträgt und bei der Stereodiabetrachtung störend bemerkbar macht. Man vergesse demnach nicht, alle die Maßnahmen zu ergreifen, durch die gemäß praktischer Erfahrungen die feinkörnige Struktur bedingt bzw. die beim Material vorhandene Feinkörnigkeit nicht zerstört wird.

Auch das Positivverfahren bietet im Leica System dem Stereofreund beträchtliche Vorteile, wenigstens bei Benutzung des Spezial-Stereobetrachtungsapparates, der ebenfalls eine Prismenkonstruktion aufweist. Das Vertauschen und Aufkleben der Bilder, das gerade für den Anfänger und den Fachmann, der unter möglichst geringem Aufwand an Zeit und Arbeit das plastische Bild auswerten will, doch ziemlich lästig ist, entfällt hier ganz. Vielmehr wird das Negativ normal wie zur gewohnten Diapositivherstellung, also ohne Seitenvertauschung auf billigen Positivfilm kopiert. Das geht namentlich mit dem Eldia-Kopiergerät oder dein großen Universalkopierer von Leitz so schnell und sicher vonstatten, daß in einer Mindestzeit das Aufnahmeergebnis betrachtet werden kann. Das Betrachtungsgerät selbst, einem Prismenfernglas nicht unähnlich, besitzt getrennte Scharfeinstellung der beiden Okulare mittels Schneckenganges, ferner eine Einstellverschiebung für den Okularabstand; so kann das Gerät leicht und schnell auf Sehschärfe und Augenabstand des Betrachters abgestimmt werden. Eine Opalglasscheibe sorgt für die gleichmäßige Beleuchtung. Der Raumeindruck ist prächtig und steht keinesfalls der Wirkung der mit größeren, eigentlichen Stereokammern hergestellten Bildern nach. Ob man dabei jedes Doppelbild für sich verglast oder ein zusammenhängendes Filmband wählt, hängt von dem besonderen Zweck ab. Wiewohl Kosten und Zeitaufwand etwas höher liegen, empfiehlt sich im allgemeinen die Anfertigung von Einzeldias, die besser geschützt und an eine bestimmte Betrachtungsfolge nicht gebunden sind; sie lassen sich zudem leicht besonderen Korrektions-und Tonungsprozessen unterwerfen oder können später ersetzt werden.

Ein besonderer Vorteil des Leica-Fotoverfahrens ist noch darin zu erblicken, daß man auf Reisen, Wanderungen usw. mit einer einzigen leichten, schnell aufnahmebereiten Kamera wahlweise normale und stereoskopische Aufnahmen herstellen kann, ohne daß der Stereozusatz eine größere Gepäckbelastung darstellt.

Selbstverständlich besteht auch die Möglichkeit, jedes Stereodoppelbild auf die übliche Größe zu bringen (beispielsweise durch 2,5-3fache Vergrößerung) und die Einzelbilder dann wie bei Kontaktkopien zu montieren. Besondere Vorteile gegenüber Diabetrachtung im Spezialgerät bestehen indessen nicht, so daß dieses Verfahren auch keine große Verbreitung gefunden haben dürfte.

Wie man bekanntlich mit jeder einäugigen Kamera durch seitliches Verschieben um den mittleren Pupillenabstand von etwa 60-65 mm Stereobilder herstellen kann, sofern sich nur keine beweglichen Gegenstände im Bildausschnitt befinden, so verfügt auch die Leica mittels eines besonderen Stereoschiebers über diese einfache Möglichkeit. Diese Schiene gestattet eine Verschiebung der Kamera und eine Aufnahme einmal mit rechtsstehender, sodann mit linksstehender Leica. Außerdem kann man zur Erhöhung der Plastik, beispielsweise bei Gebirgs- und ähnlichen Fernaufnahmen, den Abstand der optischen Achsen für die beiden Aufnahmen auf eine Basis von 150 mm verlängern. Zur exakten horizontalen Ausrichtung bedient man sich einer einschiebbaren Dosenlibelle. Das Gerät wird auf ein standfestes Stativ geschraubt und gestattet, die beiden Teilaufnahmen verhältnismäßig schnell hintereinander durchzuführen. Die einzelnen Negative haben die normale Größe von 24 x 36 mm. Selbstverständlich können hier Leica-Objektive aller Brennweiten verwendet werden. Besonders empfehlenswert ist es, für Stereofernaufnahmen mit den längeren Brennweiten 9:10,5 oder 13,5 cm zu arbeiten.

Die Negative werden auf kräftig arbeitenden glänzenden Papieren mit gleicher Deckung vergrößert, auf die geeignete Größe zugeschnitten und dann so auf Karton geklebt, daß ein klarer Fixpunkt auf beiden Teilbildern gerade 65 mm entfernt liegt, auch falls die Einzelaufnahmen mit größerem Objektivabstand gemacht sind. Während sich dieses Verfahren in der Aufnahme schnell und billig durchführen läßt, freilich unter Beschränkung auf unbewegliche Objekte und unter Benutzung eines Stativs, verlangt das Positivverfahren exaktes und sauberes Arbeiten, gewährleistet dann aber einwandfreie stereoskopische Betrachtung in jedem gewöhnlichen Gerät.

Recht leicht und einfach wird jedoch alles Arbeiten, wenn man sich der Hilfsmittel der Firma W. u. H. Seibert, Wetzlar bedient. Wir kopieren dann einfach die beiden zusammengehörigen und sich lediglich durch den Aufnahmestandort unterscheidenden Negative gleichzeitig auf einen Gaslichtpapierstreifen, den man sich am billigsten dadurch herstellt, daß man ein Blatt 9 x 12 cm in vier Streifen 3 x 9 cm zerschneidet. Man kann jeden gewöhnlichen Kopierrahmen verwenden. Die somit genau gleichgeschwärzten Bilder werden bis auf einen winzigen schwarzen Rand (ca. 1/2 -1 mm) präzis beschnitten und nach Vertauschung auf Karton von ungefähr 3 x 11 cm aufgeklebt. Die Richtigkeit der Seitenvertauschung läßt sich mit Hilfe des Betrachtungsgerätes „Plastoskop" der genannten Firma vor dem endgültigen Festkleben aus dem tatsächlichen Zustandekommen des stereoskopischen Effektes kontrollieren. Natürlich müssen jetzt die gleichliegenden Bildränder bzw. sich entsprechende Objekte im Bilde 65 mm voneinander abstehen. Ganz besonders ist darauf zu achten, daß keine Höhenverschiebung zugeordneter Objektpunkte in beiden Teilbildern auftritt; hierdurch würde die Wirkung empfindlich leiden, da es dann recht schwierig wäre, die grundsätzliche Deckung bei der Betrachtung zu erreichen. Diese Arbeit vermag man sich wesentlich zu erleichtern, wenn man sich die erwähnten Aufklebekarten besorgt; sie enthalten eine genaue Markierung für die beiden Bilder sowohl im Quer- wie im Hochformat, außerdem einen Raum für Aufnahme- und Behandlungsangaben und eine Leiste für Nummer und Bildinhalt, so daß eine Registrierung in einer Stereokartei („Plastothek") besonders bequem ist; die Größe der Karten beträgt 5 x 10,5 cm.

Dieses zwangsläufige Arbeiten läßt sich aber auch für Diapositive auf Kino-Positivfilm durchführen. Die Einzelbildchen werden auf die entsprechenden Bildausschnitte des fertig erhältlichen Doppelkartons gelegt und durch Überkleben der Perforationsränder mit Klebestreifen befestigt. Hier wird man das Kopieren am vorteilhaftesten der gleichmäßigen Deckung wegen in einem normalen Kopierrahmen vornehmen, den man zweckmäßigerweise unter dem Vergrößerungsapparat exponiert, um einen bequemen und zuverlässigen Anhalt für die Dosierung der Belichtungszeit zu haben.

Endlich ist es auch möglich, von der Stativbenutzung ganz abzusehen und aus freier Hand zu arbeiten. Der zeitlichen Parallaxe wegen darf auch dann keine Bewegung am Objekt vorhanden sein; auf wogende Getreidefelder, im Winde wehende Blumen und Bäume, Personen, Tiere oder Fahrzeuge als Landschaftsstaffage muß man also beim Arbeiten ohne den Vorsatz Stereoly verzichten. Auch diese Technik wird schnell erlernt. Bei unverkanteter und nicht geneigter, also streng senkrecht gehaltener Kamera visiert man mittels einer Sucherecke einen bestimmten Objektpunkt möglichst genau an, tritt nach der ersten Aufnahme einen kleinen Schritt seitwärts, erfaßt wieder nunmehr von einem etwa um Augenabstand seitlich verlagerten Standort aus das gleiche Bildfeld, indem man mittels der Sucherecke den vorher angeschnittenen Punkt anvisiert und so zwei Bilder erhält, die in Breite und Höhe miteinander übereinstimmen. Die Weiterverarbeitung wurde bereits erwähnt.

Alle diese Möglichkeiten des Systems der Leica-Fotografie begründen nicht nur den Ruf der Leica als Universalkamera schlechthin, sondern haben auch manche Anhänger der Kleinbildbewegung zu begeisterten Freunden des wundervollen Raumbildes gemacht.

Aus DAS RAUMBILD 1. Jahrgang, Heft 5 vom 15. Mai 1935. (© Text überarbeitet von D. Schulte)