Aus der Frühgeschichte der Stereoskopie
Von Professor Dr. Erich S t e n g e r, Berlin

INHALT:

I.     Beginn und Ausbreitung der photographischen Stereoskopie.
II.    Stereobilder in besonderer Aufmachung.
III.    Stereo-Papierbilder.
IV.    Der Handel mit Stereobildern.
V.    Das Stereobild als Buchillustration.
VI.    Stereoskopische Besonderheiten
    1. Das Stereoskop als Entlarver von Fälschungen.
    2. Große Stereobilder.
    3. Das „Casket-Porträt“
    4. „Laßt Blumen sprechen“.
    5. Panoramen-Stereobilder.
    6. Das Einzelbild soll plastisch wirken.
    7. Gefälschte Stereobilder.
    8. Das lebende Stereobild.
VII.   Schlusswort.

                                       I.

Beginn und Ausbreitung der photographischen Stereoskopie.

Nachdem am 19. August 1839 in der Akademie der Wissenschaften zu Paris das Daguerre'sche Verfahren zur Herstellung photographischer Bilder auf Silberschichten öffentlich bekannt gegeben war, lag es nahe, auch Doppelaufnahmen herzustellen im Sinne der Stereoskopie, die man seither nur mit Hilfe gezeichneter Vorlagen geometrischer Gebilde zur Anschauung gebracht hatte. Die Daguerreotypie breitete sich in allen Kulturländern schnell aus, und nachdem die ersten Schwierigkeiten der Bildherstellung überwunden waren, war es unseres Wissens Ludwig Moser in Königsberg, der als Erster etwa 1841 versuchte, die Daguerreotypie in die Dienste der Stereoskopie zu stellen (Dove, Repertorium der Physik, V. 1844 S. 384) ; der Genannte schreibt über die „Darstellung stereoskopischer Figuren auf photographischem Wege":

„Das Verfahren Daguerre's gibt das Mittel, die kompliziertesten Gegenstände für das Stereoskop gezeichnet, und durch dieselben Effekte zu erhalten, die zu den überraschendsten gehören. Als ich vor einigen Jahren mir dergleichen Bilder anfertigte, war ich doch anfangs über deren Effekt im Stereoskop ungewiß. Da diese Bilder schon einzeln einen so guten perspektivischen Eindruck machen, so schien mir, daß derselbe hier nicht erheblich gesteigert werden könnte. Allein der erste Versuch hat mich eines Andern belehrt; der perspektivische Eindruck auch des besten Bildes kommt kaum in Betracht gegen denjenigen, welchen zwei entsprechende Bilder im Stereoskop machen." Moser führt weiter aus, wie man derartige Bilder aufnehmen soll, um einen guten plastischen Effekt zu erreichen. Er und andere Verfasser behandelten hauptsächlich die Frage, welchen Winkel die Achsen der beiden auf das Objekt gerichteten Stereoeinzelkammern zu bilden haben, abhängig von der Entfernung des Objektes u. a. Tatsächlich arbeitete man in der Frühzeit der photographischen Stereoskopie mit einer Kamera, die man zur zweiten Aufnahme seitlich verschob, oder mit zwei Einzelkammern. So entstanden eigentümliche Aufnahmeregeln, wie z. B. die folgenden des bekannten Pariser Optikers Duboscq (abgedruckt nach der französischen Quelle in A. Martin, Handbuch der gesamten Photographie, 4. Aufl., Wien, 1854 S. 100); sie lauten:

„Duboscqsagt: Bei Aufnahme von stereoskopischen Bildern ist zu berücksichtigen: 1. die Größe des Gegenstandes und die Größe des zu erhaltenden Bildes; 2. die Distanz des  Objektes von der Camera; 3. die Distanz der Photographie vom Auge im Stereoskop; 4. die Vergrößerung des Bildes durch die Stereoskoplinsen; 5. die körperliche Tiefe des Objektes. Für alle diese Punkte läßt sich schwer eine allgemeine Regel aufstellen. Duboscq meint: daß für nicht allzu tiefe Gegenstände, sowohl nähere als auch entferntere, ein Winkel von 15° genüge, welche beide Kammern in ihren Richtungen gegen das Objekt machen müssen. Für eine zu porträtierende Person gibt er folgende Vorschrift: Für 3 Meter Distanz der Person von der Kamera müssen die Objektive der beiden Kammern selbst 79 Zentimeter von einander abstehen; für eine Distanz von 6 Meter müssen sie um das Doppelte, also um 158 Zentimeter, für 12 Meter um das Dreifache usw. von einander abstehen (natürlich von den Mittelpunkten gemessen) ; auch müssen dann die Objektive auf ihren Mittellinien, in beiden Apparaten, das Mittel des Gegenstandes fixieren. Für sehr tiefe Gegenstände, wie Säle, Ansichten etc. muß der Winkel viel kleiner sein und selbst bis zu 2° und 1° herab vermindert werden, so daß also die äußersten Grenzen der Winkel von 1° und 15° gebildet werden."

Die Photographen machten tatsächlich bei Porträt- und Genre-Aufnahmen Gebrauch von diesen Regeln, und so entstanden naturgemäß Bilder phantastischer Tiefe und Menschen in unnatürlicher Plastik. Man wurde sich jedoch bald dieses Fehlers bewußt; so berichtete Martin bereits zwei Jahre später (Neuestes Repertorium der gesamten Photographie, Wien, 1856 S. 221):

„Bei den gewöhnlichen käuflichen Photographien, die man für das Stereoskop verwendet, ist das Relief auf grobe Weise übertrieben, und der Fehler, welchen die Verfertiger dieser Bilder begehen, besteht darin, daß sie Gesichtspunkte annehmen, welche viel zu sehr von einander abweichen."

In gleicher Weise äußerte sich der Wiener Kreutzer in einer Schrift „Über das Stereoskop" (1856):

„Einige Photographen begnügen sich nicht (mit dem normalen Verfahren), sondern rücken die Objektive noch weiter auseinander, sie erzeugen dadurch Bilder, die ein weit stärkeres Relief liefern als die Natur darbietet, die man auf keine Weise durch das Gesicht erhalten kann, und die im Stereoskope wohl schnell und auffallend die Körperlichkeit zeigen, bei längerer Betrachtung alsbald ihre Verzerrtheit darlegen und unangenehm werden."

Es dauerte jedoch trotzdem noch etwa 10 Jahre, bis sich der Grundsatz, daß der Objektivabstand gleich dem Augenabstand sein müsse, allgemein Geltung verschafft hatte; im Jahre 1869 ist noch zu lesen, daß „falsch aufgenommene Bilder Schmerzen im Gehirn verursachen" (Liesegangs Photogr. Archiv 10. 1869. S. 66).Die in verhältnismäßig beträchtlicher Zahl auf uns gekommenen daguerreotypischen Stereobilder beweisen, wie kaum andere Proben jener Zeit, den technisch hohen Stand der Daguerreotypie und stehen auch in vielen Fällen künstlerisch auffallend hoch. In meiner vieljährigen Sammeltätigkeit habe ich 120 solcher Doppelbilder zusammengebracht und auch noch manche in anderen Händen gesehen. Es ist beachtenswert, was auf meinen Bildern zur Darstellung gelangt; es befinden sich unter ihnen:

1 wissenschaftlich-botanische Aufnahme, 3 Landschaften, 7 Familienbilder, 109 Genrebilder.

Die Landschaftsaufnahmen entstammen der Werkstätte von „T. Schneider und Söhnen" (von denen später noch zu berichten ist) ; diese Bilder sind zur Erhöhung des plastischen Eindrucks mit Baumzweigen im Vordergrund aufgenommen. Über die Familienbilder wird an späterer Stelle zu sprechen sein, und daß die Genrebilder sich besonderer Beliebtheit erfreuten, daß im Gegensatz hierzu wissenschaftliche Darstellungen schon damals geringes Interesse fanden, geht aus meiner kleinen Statistik einwandfrei hervor.Über die „Genreaufnahmen" ist einiges zu berichten; sie gehören zu den besten daguerreotypischen Erzeugnissen. Es handelt sich meist um die Wiedergabe bekleideter oder unbekleideter Mädchen, auch um theatralisch gestellte harmlose Gruppen, doch kommen begreiflicher Weise auch Bilder aller Art vor, welche für eine öffentliche Schaustellung ungeeignet sind. Eine Anzahl dieser Bilder bringt Statuen zur Darstellung.Man hat diese Bilder unter dem Namen „Akademien" in den Handel gebracht. Solche Aktaufnahmen mit Hilfe der Daguerreotypie sind als Einzelbilder bereits im Jahre 1841 hergestellt worden; N.-P. Lerebours schreibt im Jahre 1843: „Mit Erfolg wurden vor zwei Jahren die ersten Akademien gemacht, und die größte Zahl derselben befindet sich im Besitz der ersten Künstler; wir schlagen vor, beständig neue zu machen. Für diese Akademien, in Ermanglung von ernsten Kunststudien, benötigt man einen sehr ausgesprochenen künstlerischen Geschmack; denn die Wahl der Stellung macht zahlreiche Schwierigkeiten. Soviel wie möglich vermeide man, daß die einzelnen Körperteile vom Objektiv verschieden weit entfernt sind. Man sei mäßig mit den Beigaben, denn eine große Einfachheit ist oft vorteilhaft für ein solches Bild".Was man am Einzelbild gelernt hatte, das übertrug man mit bestem Erfolg auf die stereoskopische Aufnahme. Die Hochflut für diese Erzeugnisse scheint nach meinen Beobachtungen und nach den Zeitungsanzeigen jener Zeit um 1850 gewesen zu sein. Es handelte sich um Atelieraufnahmen, vielfach unter Vortäuschung von Heimaufnahmen.Das Kolorieren photographischer Bilder hat oft zu unverantwortlichen Entgleisungen geführt; eine der wenigen wirklich rühmlichen Ausnahmen machen die Stereo-Akademien. Das Kolorieren der gegen jede Berührung empfindlichen Silberschicht der Daguerreotypien geht auf den St. Gallener Maler und Photographen J. B. Isenring zurück, der bereits 1842 bemalte Bilder zeigte. Das von mehreren Händen ausgearbeitete Verfahren der Folgezeit bestand im wesentlichen darin, daß man die Schicht mit einem in der Kälte oder durch Erwärmen klebrigen Überzug versah und auf diese klebrige Schicht feinst gepulverte Staubfarben in trockenem Zustand mittels eines weichen Pinsels, auch unter Verwendung von Papierschablonen, auftrug. Die Kolorierung der Akademien ist bewundernswert fein und künstlerisch durchgeführt; mag es der spiegelnde Glanz jener Bilder, ihr altertümliches Aussehen, vielleicht auch die süßliche Bildauffassung jener Zeit sein, die uns die Anfärbekunst so erfreulich erscheinen läßt, sicher ist, daß die Hauttöne in überraschend vollkommener Weise wiedergegeben worden sind, und daß die photographische Zeichnung des Bildes durch die Kolorierung nicht gelitten hat.Es waren sicherlich nur einzelne begabte Künstler, denen es gelang, solche naturfarbenähnliche Bilder in dem schwierigen Verfahren der Kolorierung herzustellen. Ernest Lacan, der Pariser Berichterstatter deutscher Fachblätter, schreibt in einem Brief vom 7. Febr. 1864 (Liesegangs Photogr. Archiv 5. 1864 S. 111): „in engeren Grenzen ist es einer geschickten Künstlerin, der Madame Braquehais gelungen, ein Mittel zur Befriedigung der ewigen, unersättlichen Gier der Menge nach Neuem zu finden. Würdige Schülerin ihres Vaters hat sie seinen Ruf geerbt, Stereoskop-Porträts und Akademien auf Silberplatten besser als irgend jemand in Farbe auszuführen." Diese Notiz weist einerseits auf die nur von Wenigen wirklich gemeisterte Kolorierung hin, andererseits zeigt sie, daß noch im Jahre 1864 in Paris wenigstens zu diesem Zwecke daguerreotypiert worden ist. Allerdings berichtet Lacan schon in einem Brief vom Juli 1863, daß die genannte Dame in Paris die einzige war, die noch dem Daguerreschen Verfahren treu geblieben sei.Daß in jener frühen Zeit das Kolorieren der Daguerreotypien auch Ablehnung fand, beweist A. Martin in seinem 1848 erschienenen Repertorium: „Mir gefallen gemalte Bilder durchaus nicht, der einzige Vorteil, den die Farben gewähren, ist jener, den sie mit dem Gebrauch der Schminke überhaupt gemein haben, die Farben verdecken nämlich mitunter die Runzeln, die die Daguerreotypie mit Naturtreue wiedergibt". Die Modelle der Akademien litten allerdings noch nicht an Runzeln.Die dargestellten schönen Mädchen wurden noch auf andere Weise besonders geziert; man hob ihren Hals- und Armschmuck dadurch hervor, daß man an den Stellen der Edelsteine mit einem feinen Stichel die Silberschicht durchstach und so die unterliegende Kupferschicht der Bilder freilegte. Da die von Hand hergestellten Einstichstellen in beiden Teilbildern naturgemäß nicht völlig übereinstimmen können, da auch die Einstichstellen verschieden geartete Ränder aufweisen, so entsteht bei der stereoskopischen Betrachtung ein eigenartiges Blitzen und Funkeln dieser nachgebildeten Edelsteine. Es ist dieselbe Beobachtung, mit deren Hilfe wir z. B. bei zwei an sich gleichen Drucken Unterschiede feststellen können, wie dies bei der Geldscheinprüfung durchgeführt wird, wenn der Verdacht einer Fälschung vorliegt.Daß solche „Akademien" nicht billig waren, ist begreiflich. Ich fand auf Stereobildern noch die alten Auszeichnungen von 2 Thlr.; Eckenrath, der größte Stereobilderhändler in Berlin, bot 1860 „Akademien auf Silberplatte von 11/2 bis 3 Thlr. pro Stück" an.Die Beliebtheit der „Akademien" konnte ich bereits statistisch beweisen. H. W. Vogel berichtete aus der Londoner Weltausstellung des Jahres 1862, daß der Pariser Verleger photographischer Bilder Dagron in seinem außerordentlich reichhaltigen Katalog Bilder zum Preise von 25 Silbergroschen anbot und daß man dort neben vielem anderen - was am meisten verlangt wird - Akademien kaufen konnte, von denen er eine bedeutende Anzahl mit großer Ungeniertheit namentlich in seiner Liste aufführte. Die weite Verbreitung der Akademien wurde nicht behindert durch zahlreiche ablehnende Urteile solcher Bildgestaltung ; Dr. J. Schnauß sprach 1863 von Photographen, die sich durch Darstellung sogen. Akademien beschmutzten. . L. Schrank berichtete in einem Wiener Sylvesterbrief von 1863 von der Konfiskation obszöner Stereobilder und der Verurteilung, die sich daran knüpfte; Disderi, der bekannte Pariser Photograph und Erfinder des Visitformates, schreibt in seinem Buch „Die Photographie als bildende Kunst" (1864 S. 306) „Wir müssen beim Genrebild auch der ekelerregenden Nuditäten gedenken, welche die physischen und moralischen Häßlichkeiten derer erschreckend treu wiedergeben, die für Geld zu diesen Bildern Modell standen. - Wie soll der Photograph aber jemals ein wahrhaft schönes Bild erlangen können, wenn ihm Damen von kaum noch zweifelhaft zu nennendem Rufe für Bezahlung Modell zur Venus von Milo stehen?"

                                        II.

Stereobilder in besonderer Aufmachung.

Nachdem sich in der bereits geschilderten Weise die Stereoskopie in weiten Kreisen in Gestalt mannigfacher Bildnisse ausgebreitet hatte, übernahmen geschäftstüchtige Berufsphotographen diesen Zweig der Lichtbildnerei, um durch Herstellung entsprechender Personenaufnahmen ihrem Gewerbe eine neue Einnahmequelle zu erschließen.Aber mit dem Photographieren allein war es nicht getan; man mußte die Bildnisse mit ihren plastischen Effekten auch leicht betrachtbar machen. Wenn die Patentrechte jener Zeit unseren heutigen Anschauungen entsprachen, so müssen wir annehmen, daß der Amerikaner J. F. Mascher in Philadelphia der erste war; der einen Betrachtungsapparat in feste Verbindung mit einem Bilderpaar brachte. Am 8. März 1853 erhielt er das amerikanische Patent Nr. 9611 auf eine „Verbesserung von Daguerreotypiekästen". Damals wurde jede gut gelungene Daguerreotypie, auf deren Ausstattung man Wert legte, in kleinen, aufklappbaren, meist mit Leder überzogenen oder aus einer Preßmasse hergestellten flachen Kästen untergebracht, deren eine Innenseite das Bild unter Glas in einem kleinen Bronzerahmen enthielt, deren andere Seite meist mit gepreßter, manchmal die Firma des Photographen zeigender Sammeteinlage ausgefüllt war, wenn sie nicht gelegentlich zur Unterbringung eines zweiten Bildes benutzt wurde. Diese damals übliche Aufmachung änderte Mascher in der Art, daß er sie mit einem Stereobetrachtungsapparat verband, Sein Patent wurde folgendermaßen beschrieben:„Die Natur dieser Erfindung besteht in der Konstruktion eines Kastens mit einem Deckel und einer beweglichen Klappe, welche gegeneinander verstellbar sind. Die Klappe, welche innerhalb des Kastens Raum hat, trägt zwei gewöhnliche Linsen; eine Daguerreotypie ist gegenüber jeder dieser Linsen befestigt. Durch diese Anordnung entsteht ein vollständiges Stereoskop und die Daguerreotypien erscheinen bei zweiäugiger Betrachtung wie plastisch lebenswahre Bilder.Patentanspruch: Konstruktion eines Daguerreotypiekastens mit einem beweglichen Deckel oder in einer ebensolchen Klappe innerhalb des Kastens, welche zwei gewöhnliche Linsen trägt, bei dem nach richtiger Einstellung des Deckels oder der Klappe ein Stereoskop entsteht".Auf diese Weise hatte es der Erfinder verstanden, die Unbequemlichkeit der stereoskopischen Betrachtung auf ein Mindestmaß herabzudrücken und so dem großen Publikum den Anreiz zu geben, von solchen plastischen Familienbildern ausgiebig Gebrauch zu machen. Eder und Kuchinka geben an (Ausführl. Handbuch der Photographie I, 1, IV. Auflage 1932, S. 375; II, 3, 111. Auflage 1927, S. 29), daß die Wiener Optiker Rospini und Waldstein in den 40er Jahren die damals im Ausland auftauchende Erfindung der Stereoskopie und Photographie aufgriffen und sie in einer praktischen Aufmachung in den Handel brachten; an dem einen Deckel eines Etuis befände sich die Stereo-Daguerreotypie, der zweite Deckel enthalte zwei kleine Betrachtungslinsen. Ich zweifle nicht daran, daß die Wiener Ausführung dem amerikanischen Patent entsprach; die zahlreichen von mir im Laufe der Jahre für meine Sammlung erworbenen Daguerreotypien dieser Art zeigen ausnahmslos; die gleiche Aufmachung. Da erst um 1850 die Stereo-Daguerreotypie sich allgemein verbreitete, da das amerikanische Patent im Jahre 1853 erteilt wurde, so könnte es sein, daß die von Eder für die Sammlung der Wiener „Graphischen Lehr- und Versuchsanstalt" angekauften Stereobilder auch erst um 1853 oder später, also in den letzten Jahren der daguerreotypischen Photographie, entstanden sind. Die Stereokästchen von Mascher tragen unterhalb der Betrachtungslinsen eine entsprechende Benennung mit Hinweis auf das amerikanische Patent (siehe Abb.). Die in meiner Sammlung enthaltenen Stereokästchen dieser Art sind in Deutschland oder der Schweiz erworben worden, zum Teil ohne Herstellernamen, zum Teil mit der Angabe:„W. T. SCHNEIDER" bzw. „STEREOSKOP VON T. SCHNEIDER UND SOEHNE" versehen. Diese 1847 gegründete Firma, die hauptsächlich Stereobilder aus Berlin, Petersburg und Moskau vertrieb und „3 Jahre lang in Italien" Stereoaufnahmen gemacht hatte, befand sich im Jahre 1887 „in der Heimat", in Krotzingen (Baden). Auch diese Stereobilder leiden an einem stark übertriebenen plastischen Effekt; die Teilbilder erscheinen in einzelnen Fällen bei der Einzelbetrachtung so stark verschieden, daß man zweifeln kann, ob ihre Vereinigung zu einem plastischen Eindruck führen könne; derartige Bilder zeigen die Raumtiefe in besonders unnatürlichem Übermaß. In jenen Jahren wurde die Daguerreotypie durch das nasse Kollodiumverfahren verdrängt, und so finden wir in gleicher Aufmachung solche Familienbilder auch auf Glas als schwarz hinterlegte Positive (Melainotypien). Ich sah auf solchen Bildern die Firma Lutze und Witte Berlin. Im Jahre 1920 tauchte die alte Idee der Stereokästchen erneut auf; die Stereo-InduporGesellschaft in Frankfurt/Main versuchte auf diesem Wege die vernachlässigte Stereoskopie volkstümlich zu machen und sie dem Industriebild und dem Porträt zuzuführen. So entstanden ganz ähnliche Kästchen wie diejenigen der Frühzeit; und manches in den letzten Jahren gebaute zusammenklappbare „Taschenstereoskop" für auswechselbare Bilder erinnert ebenfalls an die frühere Ausführungsform.

Eine andere Art besonderer Bildaufmachung schilderte Ernest Lacan in einem Pariser Brief vom 1. Febr. 1863 (Liesegangs Photogr. Archiv, 4. 1863, S. 66)

Hr. Saugrin, der sich schon seit Erfindung der Daguerreotypie ein wohlverdientes Renomme erworben hat, einer unserer geschicktesten Stereoskopisten, hat ein sehr sinnreiches Album erfunden. Von außen gleicht es den gewöhnlichen Visitenkarten-Albums; wenn man es aber öffnet, richtet sich ein Stereoskop mit zwei Linsen im rechten Winkel zur inneren Seite des Umschlags auf. Die Entfernung ist so berechnet, daß die beim Umblättern aufeinanderfolgenden Bilder stets im Brennpunkt bleiben. Auf jedem Blatt sind zwei Stereoskopbilder, zwei auf der Vorderseite und zwei auf der Rückseite. Wenn man alle auf einer Seite befindlichen Bilder gesehen hat, setzt man die Linsen an die andere Seite des Umschlags und sieht nun die übrigen Bilder. Hr. Saugrin hat augenblickliche Bilder aufgenommen, die sehr interessante Albums bilden. Dies System ist sehr einfach und scheint dem Publikum sehr zu gefallen".Auch Taschenstereoskope kleinen Ausmaßes gab es schon im Jahre 1860 (Liesegangs Photogr. Archiv, 1. 1860, S. 14)

 „Man beginnt jetzt die Stereoskopen sowohl in größerer als in kleinerer Form zu konstruieren. Eine sehr hübsche Art der Letzteren ist das Bijoustereoskop von Negretti, welches uns heute von dem Verfertiger zugeschickt wurde. Das Stereoskop besteht aus drei leicht ineinander zu fügenden Brettchen; dem Untersatz, einem quer darauf stehenden Mittelstück und dem Linsenhalter, welcher zwei ganz kleine Vergrößerungsgläser mit zwei Zoll Brennweite enthält. Die Bilder sind nur 1 1/2" rh. hoch, kommen aber an Ausdruck und Plastik den gewöhnlichen ganz gleich, und man hat die Bequemlichkeit, einige Dutzend Bilder mit dem Apparat in der Westentasche tragen zu können".

                                         III.

Stereo-Papierbilder.

Den Daguerreotypien folgten Bilder auf Glas und auf Papier. Auch damals empfand man schon den besonderen Reiz der Durchsichtsbilder, wohl in noch höherem Maße als heute, da die spiegelnden Daguerreotypflächen die Betrachtung stets schwierig machten. Die Massenherstellung von Stereobildern beschränkte sich der Billigkeit halber auf Papierkopien.Glasbilder, Negative mit weißlichem Silberniederschlag schwarz hinterlegt als „Melainotypien" positiv erscheinend, finden sich gelegentlich in den vorher beschriebenen Stereo-Kästchen; auch Glas-Durchsichtsbilder sind in mancherlei Proben erhalten geblieben. Vogel berichtet von solchen Bildern, die in der Londoner Weltausstellung des Jahres 1862 gezeigt wurden:

„Im Stereoskopenfache exzellieren die Herren Ferrier und Soulier in Paris. Ihre prachtvollen Stereoskopen auf Glas sind durch ihre tadellose Ausführung vielleicht einzig in ihrer Art. Es finden sich darunter außerordentlich gelungene Augenblicksbilder der Pariser Boulevards mit ihrem Gewühl von Menschen, Wagen und Pferden. Leider steht der hohe Preis (2 Thlr. das Stück) der Anschaffung ihrer schönen Stereoskopien im Wege".

Stereo-Papierbilder jener Zeit gibt es noch in großer Menge; hauptsächlich Landschaftsund Städtebilder sind in Millionen von Kopien hergestellt worden, es hatte sich eine beachtliche Industrie entwickelt; so schreibt z. B. Vogel wiederum aus London: „Den Preis in der Kunstphotographie verdienen jedoch die schönen Bilder der Photographie and Stereoscopic Company. Diese Gesellschaft hat für das Privilegium, die Kunst- und Industrie-Gegenstände in der Ausstellung allein aufnehmen zu dürfen, 1500 Guineen bezahlt. - Die schönen Stereoskopen der genannten Company sind schon längst in allen Kunstläden Europas zu finden".

 Die Vorliebe für „Akademien" bestand auch weiterhin; sie finden sich (wie auch manche Architekturbilder) aus jener Zeit in einer ganz besonderen Form: Man kopierte die Teilbilder auf dünnem, schwach durchscheinendem Papier, das man auf der Rückseite roh und flächenartig kolorierte; die Bilder wurden mit dünnem, weißem Papier unterkleidet in Papprähmchen geklebt und waren bei Durchsichtsbetrachtung ein minderwertiger Ersatz für die guten Glasdiapositive. Die Effekte, die der Stichel auf den ersten Silberschichten hervorgebracht hatte, übertrug man in der Art auf diese Papierbilder, daß man sie an einzelnen Stellen durchlöcherte, und so z. B. im Ballsaal am Kronleuchter die Kerzenflammen zum Flimmern brachte. Sollte eine nächtliche Aufnahme vorgetäuscht werden, so kolorierte man mit satteren Farben, brachte bei Architekturbildern einige Fenster durch Ausschneiden zum Leuchten und ließ den Mond als kreisrundes Loch nur in einem Teilbild erscheinen. So kann man feststellen, daß der immerhin schwierigen, jedoch auch hochstehenden Daguerreotypie der Verfall in Gestalt des in Massen hergestellten Papierbildes folgte. Der Markt war unbeschränkt aufnahmefähig für Stereobilder, die Stereo-Manie wurde in Witzblättern gegeißelt. So ging man an bildliche Aufgaben heran, welche die Photographie auf wenig empfindlichen Negativschichten im Atelier noch nicht meistern konnte. Disderi kritisierte die auf der Pariser Industrieausstellung gezeigten Genre- und Historienbilder, die ebenso „komisch wie linkisch" wirkten (L'art de la Photographie, Paris 1862, S. 304) : „Den höchsten Grad des steifen Gefrorenen findet man aber jedenfalls bei den auf diese Weise komponierten stereoskopischen Genrebildern. Die Verfertiger haben da Bälle, Feste, Spiele, Liebesszenen, Kämpfe usw. darstellen wollen und haben nichts an Personen, Kostümen und allerhand Dekorationen von gemaltem Gips und Pappe gespart; sogar Hintergrund und Himmel haben sie mit gemalter Leinwand wiedergeben wollen. Aber der photographische Apparat hat sich nicht täuschen lassen; er zeigt uns deutlich das Gewebe des improvisierten Himmels, sowie die zum ersten Mal gebrauchten Kostüme, in denen noch die ganze Appretur des Zeuges steckt, und es erscheint uns das Ganze als zwecklose, zufällige Zusammenkunft von Personen, als langweiliger Karneval, dessen Anblick durch das stereoskopische Relief nur noch widerlicher wird".

In den Großstädten Europas und Amerikas waren Verleger solcher Stereobilder unermüdlich tätig; die entstandenen Bildreihen wurden ausgetauscht und waren überall käuflich. In Berlin waren es die Firmen C. Eckenrath, bald darauf Sophus Williams und S. P. Christmann, welche als Erzeuger und Händler tausende von Verschiedenheiten am Lager hatten und durch Kataloge und Zeitungsanzeigen für die Verbreitung der Stereoskopie sorgten. Das stereoskopische Familienbild war trotz der Bemühungen der Berufslichtbildner nicht allzu stark verbreitet; in einer Aufnahmenreihe verschiedener Familienmitglieder einzeln und in Gruppen fand ich als Ergänzung für eine fehlende Aufnahme ein durch Nebeneinanderkleben zweier Kopien der gleichen Aufnahme gefälschtes Stereobild, selbstverständlich ohne plastische Wirkung; vielleicht sollte es ein zu Bruche gegangenes Negativ ersetzen.

                                        IV.

Der Handel mit Stereobildern.

Stereo-Daguerreotypien konnten trotz ihrer hohen Qualität kein Handelsartikel mit wirklich großem Umsatz sein; denn ihr Preis gestattete nur dem wohlhabenden „Kenner" die Anlage einer größeren Sammlung. Sobald jedoch im Negativ -Positivverfahren die Papierkopie verhältnismäßig einfach und vor allem billig herstellbar war, da gab es keine Schranken mehr für die Ausbreitung der Stereoskopie. Um sie volkstümlich zu machen, taten „Stereoskopen Sammlungen" das Ihrige, Schaustellungen in der Art, wie sie seit etwa 1880 in verbesserter Form allerorts als August Fuhrmanns „Kaiser-Panoramen" zu finden waren. Im Sommer 1855 - um ein Beispiel zu nennen - befand sich eine solche Sammlung in Berlin, Unter den Linden Nr. 27, 1. Etage; sie war von 9-6 Uhr gegen ein Eintrittsgeld von 10 Sgr. geöffnet und zeigte u. a. eine Reihe von Rheinansichten. In Hamburg (worauf W. Weimar in seinem schönen Buche, Die Daguerreotypie in Hamburg, hinweist) und so auch in allen anderen Großstädten befanden sich dauernd um diese Zeit solche Schaustellungen, welche die allgemeine „Stereoskopomanie" einleiteten. Und als diese im Abflauen war, da halfen jene Schaustellungen das Interesse für das plastisch wirkende Photobild aufzufrischen. Ein Unternehmer Oscar Jann, der seine „pompöse Stereoskopen-Sammlung im Sommer 1868 fast ein Vierteljahr in Hamburg" gezeigt hatte, erzählte im Januar des folgenden Jahres gelegentlich seiner Schaustellung in Berlin, daß er jährlich 64 000 Besucher in seinen Räumen zähle (Liesegangs Photogr. Archiv, 9. S. 191; 10. S. 66). Es sei wenigstens auf einige Anpreisungen der Stereoskopbildhändler aus jener Zeit verwiesen. So bot im Jahre 1857 Julius Loebel, Mechaniker und Optiker in Dresden, „eine Auswahl von 1000 Bildern, auf Glas, Silberplatten und Papier an, enthaltend Ansichten von Deutschland , Frankreich, England, Italien, den Pyrenäen, der ganzen Schweiz, sowie sehr sauber gearbeitete akademische Bilder nach lebenden Pariser Modellen, die er nebst den Apparaten neuester. Konstruktion stets neu ausgewählt von Paris erhält". Die Tageszeitungen brachten lange Berichte über das Gebotene, so auch die „Dresdner Nachrichten" (23. 4. 1857):

                                 Stereoskopen

 sind bereits wiederholt der Gegenstand der Erwähnung in öffentlichen Blättern gewesen und haben sich eine Anerkennung verschafft, die, von ihrem Werte ausgehend, auch für denselben zeugen muß. Und das mit vollstem Rechte. Dieselben sind, ohne mit ruhmrednerischer Übertreibung darüber uns auszusprechen, in größter und bisher nur möglicher Vollendung und zu schönstem Effekte durch die Bemühungen vieler tätiger Kunstfreunde vorbereitet worden. Was die vollendetste Malerei, die veredeltste Bildhauerkunst, kurz alle bildende Künste zur möglichst getreuen und plastischen Wiedergabe des Lebens in dem ästhetischsten Sinne zu wirken vermögen, das leistet die einzig und erhaben in ihrer Weise dastehende Stereoskopie auf so überraschendste Art, daß einen unwillkürlichen Ausdruck der Bewunderung und Anerkennung wir gar nicht unterdrücken können und gewiß ein jeder, der nur einigermaßen ein teilnehmendes Gefühl für derartige künstlerische Darstellungen und Forschungsresultate in sich trägt, sich hochbefriedigt in Betrachtung derselben fühlt. Besonders aber ist anzuerkennen, daß ein hiesiger Optiker, Hr. J. Löbel, Schloßweg 19 , diesen neuen und vielumfassenden Zweig der Kunst (wo die Wissenschaft mit Technik und Kunst sich so innig zu dem glänzendsten Erfolge vereinigte) mit einer Vorliebe gepflegt hat, die, kein Geldopfer scheuend, einzig darauf hinausging, das Möglichste in jeder Beziehung zu leisten, so daß genannter Herr gegenwärtig in den Besitz einer Stereoskopensammlung gekommen ist, die wohl den Wunsch und die Aufforderung hervorrufen dürfte, doch irgend eine Gallerie oder Ausstellung solcher wahrhaft schönen Stereoskopenbilder zu veranstalten, zumal in seiner höchst umfangreichen und mehr denn tausend Gegenstände umfassenden Sammlung Tableau's vorhanden sind, die, von den größten Künstlern der Malerei und Plastik ausgeführt, alle Situationen des Lebens, die reizenden akademischen Gruppen und Darstellungen keineswegs ausgenommen, uns so vorführen, daß wir dieselben wahrhaft verkörpert vor unser Auge treten sehen“.

Für 100 Stereoskop-Ansichten aus Ägypten und Nubien ließen 1858 die Verleger Negretti und Zambra in London einen Katalog von 16 Seiten erscheinen, in welchen nicht nur die einzelnen Bilder beschrieben, sondern auch Pressestimmen über dieselben abgedruckt waren.

„In ganz Deutschland das größte Lager von Stereoskopen“ zu besitzen, rühmte sich 1860 C. Eckenrath in Berlin, Charlottenstr, 29. Er bot an:

 „Stereoskope neuester und verbesserter Konstruktion von 15 Sgr, bis 8 Thlr. pro Stück, große Stereoskope mit 50 Bildern, Stereoskope zum Drehen mit 12 Bildern 12 Thlr., mit Ansichten von Paris und Umgegend pro Stück 20 Thlr. Kleine Taschenstereoskope a Stück 25 Sgr. und 1 Thlr.; Bilder dazu, Ansichten vom Krystallpalast zu Sydenham a Stück 7 1/2 Sgr. ; Akademien dazu schwarz 10 Sgr., koloriert 12 1/2 Sgr. pro Stück. Gruppen dazu kol. 12 1/2 Sgr. pro Stück. Stereoskopische Bilder aus allen Ländern, von denen solche überhaupt existieren, auch von Amerika und China, auf Papier; Ansichten von Paris, zweite Qualität ä Stück 2 1/2 Sgr., erste Qualität ä Stück 3 Sgr., pro Dutzend 1 1/6 Thlr.; Gruppenbilder von 2 1/2 - 22 1/2 Sgr. pro Stück. Akademien auf Silberplatten von 1 1/3 Thlr. pro Stück. Als passendes Geschenk für Kinder: ein Stereoskop mit 1 Dutzend Bildern dazu, 6 Ansichten von Paris und 6 Gruppen für 1 Thlr. 10 Sgr.

Seine Anzeigen schmückte Eckenrath mit einem netten Bilde, auf welchem man eine Familie, Alt und jung, mit der Betrachtung von Stereobildern beschäftigt sieht (siehe Abb.).

 

Das bekannte „Photographie-Institut von Eduard L i e s e g a n g in Elberfeld" (später in Düsseldorf) lieferte im Sommer 1860 nach folgender Preisliste:

                    Stereogramme.
                  (Stereoskop-Bilder).
1. auf Papier                    Preis pro Dutzend
                  Ansichten:
Diverse                                Rthr. 1
Deutschland, England, Frankreich            Rthr. 3
Holland, Schweiz, Algier                   Rthr. 4
Ägypten, Nubien, Indien, Jerusalem           Rthr. 5
China, Amerika                          Rthr. 6
Genrebilder:
Gruppen I. Schwarz                 Rthr. 5 kol. 6
Gruppen II. Schwarz                 Rthr. 4  u. 5
Akademien                             Rthr. 6
Illuminierte Transparentbilder                Rthr. 6
Statuetten                         Rthr. 4 u. 5
Kaiserliche Schlösser                     Rthr. 4
II. auf Glas:
Ansichten aus Deutschland                 Rthr. 9
Ansichten aus Frankreich, England, Italien,
Spanien, Schweiz, Pyrenäen, Griechenland,
Türkei, Rußland, Ägypten, Jerusalem, Indien,
China                                Rthr. 20
Alle Arten von Bildern werden stets in größter
Auswahl auf Lager gehalten.

In Tageszeitungen, nicht weniger in den Familienzeitschriften, wie z. B. in der „Leipziger Illustrierten Zeitung" mehrten sich die Anpreisungen von Stereoskopen und Stereobildern, vielfach mit Abbildungen, wie z. B. diejenigen der bekannten Firma A. Krüß in Hamburg (siehe Abb.). Weimar gibt in seiner „Daguerreotypie in Hamburg" eine umfangreiche Zusammenstellung solcher Anzeigentexte, in welchen einzelne Händler ihr Lager von mehr als 600 000 Bildern anpreisen! Zu einem drastischen Mittel, allzu aufdringliche Beschauerhände abzuhalten, wußte die Firma Krüß in Hamburg im Jahre 1859 schreiten; „der Stereoskopen-Schaukasten wurde nämlich an denjenigen Stellen, die von der jüngeren Generation der Stereoskopen-Liebhaber beim Aufklettern als Stützpunkt benützt wurden, mit Blech beschlagen, welches durch den Strom einer galvanischen Batterie sich in einem elektrischen Zustande befand, so daß die berührende Hand durch einen elektrischen Schlag sogleich wieder entfernt wurde. Es war für die liebe Jugend natürlich ein großes Gaudium, diese öffentliche Elektrisiermaschine fleißig zu probieren." Und so sei noch als Letztes in dieser Hochflut der Stereoskopie auf die Kataloge des Kunst-Verlages von S. P. Christmann in Berlin verwiesen, die seit 1864 in mindestens 50 Ausgaben erschienen und in der Abteilung „Stereoskopie" nicht nur die eigenen Erzeugnisse, sondern auch diejenigen anderer Verleger des In- und Auslandes aufführten. Der Katalog Nr. 9 vom Januar 1868 zählte 59 verschiedene Betrachtungsgeräte auf. David Brewster, der Erfinder der Prismenstereoskope, schätzte die Anzahl der bis zum Jahre 1856 abgesetzten Prismenstereoskope auf mehr als eine halbe Million. J. Duboscq kam auf ähnliche Zahlen, da er den Wert der bis zum Februar 1857 allein in Paris angefertigten Stereoskope auf mehrere Millionen Franken veranschlagte. (M. v. Rohr, Photogr. Korrsp. 67, 1931 Heft 8 S. 28.) Bei einer solchen Verbreitung der Stereoskopie ist es begreiflich, daß man sie auch dichterisch verherrlichte. Im Jahre 1865 verfaßte F. Wunder in Hannover folgendes Gedicht (Photogr. Mitteilungen 2. S. 129)

DAS STEREOSKOP.
Ein Kästchen nach der Optik festen Normen,
Ein flaches Doppelbild, hineingestellt,
Und wunderbar, ihr seht die schöne Welt,
Verjüngt und klar in plastisch treuen Formen.
Die Zahl der Bilder zählt nach Millionen,
Im Licht erzeugt - ob der Erfindung Reiz –
Vom ewigen Schnee der Gletscher in der Schweiz,
Bis zu dem Sand am Meer in allen Zonen.
Willst Du die schöne Welt dir recht beschauen,
Du hast nicht nötig einen Reiseplan,
Bedarfst des Schiffes nicht und nicht der Eisen­bahn,
Holst nicht den Schnupfen dir im Wind, dem rauhen.
Gemütlich setzt man sich ins warme Zimmer,
Und reiset in der Tat erstaunlich schnell,
Die Landschaft liegt vor uns so sonnenhell,
Benutzt man auch der Lampe matten Schimmer.

Wenige Jahre später ging die Blütezeit der Stereoskopie zu Ende. Jahrelang war das Stereobild in allen Familien ein unterhaltendes Spielzeug, das in Oberzahl von Berufsphotographen geschaffen und von tüchtigen Verlegern vertrieben wurde. Stereoskopierende Amateure waren selten. Forschungsreisende bedienten sich gelegentlich der plastischen Bildwiedergabe; so kann ich z. B. auf den Berliner Ethnographen Fedor Jagor (1817 bis 1900) hinweisen (Camera, 9 , 1930/31, S. 169 u. 200), der im Jahre 1857 auf eine mehrjährige Entdeckungsfahrt ins östliche Asien auszog und zwei Stereoausrüstungen mitnahm (Sammlung Stenger), deren eine aus zwei französischen Einzelkammern zusammengesetzt war und einen Objektivabstand von 12 cm hatte. Seine Stereobilder erschienen 1863 in einem „Cyclus" unter dem Titel „Voyage de M. Jagor" und wurden; als „unschätzbar" für das Studium erklärt. Die Stereoskopie liegt heute im Wesentlichen in den Händen der Amateure und Wissenschaftler; und wenn dieser wichtige Zweig der Lichtbildnerei auch praktisch und wissenschaftlich volle Anerkennung findet, so ist jedoch seine Ausbreitung leider verschwindend klein gegen jene Zeit der „Stereoskopomanie".

                                          V.

Das Stereobild als Buchillustration.

Das erste mittels Stereophotographien illustrierte Buch ist im Jahre 1858 in London erschienen. C. Piazzi Smyth ist der Verfasser, ein auf photographischem Gebiete sehr verdienstvoller schottischer Astronom, der hauptsächlich bekannt geworden ist durch seine Aufnahmen im Innern der großen Pyramide in Ägypten; er hatte diese Aufnahmen bei Magnesiumbeleuchtung unter besonderen Schwierigkeiten im Jähre 1865 gemacht, so auch 57 Stereobilder. Der Genannte gab im Jahre 1858 ein Buch heraus: „Teneriffe, an Astronomer's Experiment. Illustrated with Photo -Stereographs". Dieses Werk enthält 20 Stereobilder, die in den Text eingebunden sind. Der Verfasser schreibt selbst über diese „lllustrationen", daß er bestrebt war, die Natur in allen ihren Tatsächlichkeiten so getreu wie möglich für den Beschauer festzuhalten, und daß ihm zu diesem Zwecke die Photo-Stereographie besonders geeignet erschiene. Diese Art der Buchillustration sei früher niemals versucht worden. Diene- die Photographie als Grundlage für Zeichnungen, so sei diese Grundlage ungenau; sie werde erst dann voll brauchbar, wenn man zwei Aufnahmen desselben Gegenstandes im Sinne der Stereoskopie herstelle. Man brauche nur die beiden Photographien im Stereoskop zu betrachten, um zu einem Bild natürlicher Qualitäten zu gelangen. Bisher seien Stereographien noch nicht als Abbildungen in einem Buch verwendet worden, jedoch erschiene ihm diese Verwendung sehr zweckdienlich und gut vereinbar mit dem Gebrauch eines gewöhnlichen Stereoskops, das unten offen sein müsse. Die Firma Negretti und Zambra in London habe einen solchen Betrachtungsapparat gebaut, der zusammengefalten wie eine Landkarte in einer Hülle untergebracht werden könne. Das für die Betrachtung dieser in das Buch eingehefteten Stereobilder geeignete Stereoskop wurde, wie M. v. Rohr berichtet (Photogr. Korrsp. 67 1931. B. S. 28) und ein in das Buch eingeklebter Reklamezettel beweist, für 3 1/2 Schilling verkauft. Die Bilder des genannten Buches (Bibliothek Stenger) haben sehr verschiedenen Inhalt; man sieht den Pic von Teneriffa aus weiter Ferne, aber auch die Forscher auf seiner Spitze, ferner die Instrumente, die Unterkunftshütte, weite Fernsichten, Fels- und Lavapartien, den Eingang einer Eishöhle und viele botanische Merwürdigkeiten; die stereoskopische Wirkung ist ausgezeichnet und nicht allzu sehr übertrieben. Man kann annehmen, daß die stereoskopische Bebilderung des genannten Werkes Aklang gefunden hat; denn der Verleger LOVELL REEVE begann im gleichen Jahre 1858 eine der Stereoskopie gewidmete Zeitschrift „The Stereoskopie Magazine" herauszugeben (M. v. Rohr, an genannter Stelle), deren Bildbeilagen den Smyth'schen entsprachen.

                                 VI.

Stereoskopische Besonderheiten.

                                         1.

Das Stereoskop als Entlarver von Fälschungen.

Bei Besprechung der im daguerreotypischen Verfahren hergestellten „Akademien" war die Rede von den Sticheleingrabungen auf beiden Teilbildern, die im Stereoskop das Glitzern des Schmucks vortäuschen, da die mit der Hand erzeugten Vertiefungen nicht völlig übereinstimmen können. Schon H. W. Dove hat im Jahre 1859 (Optische Studien, Berlin S. 26) verwiesen auf die „Anwendung des Stereoskops, um einen Druck von seinem Nachdruck, ein Original von seiner Kopie zu unterscheiden". Es handelt sich bei diesem Nachweis um das Auftreten des stereoskopischen Effekts, wenn in zwei Vorlagen angeblicher Gleichheit auch nur die geringsten Ungleichheiten vorhanden sind. Und diese treten auch bei sorgfältigster Arbeit in Nachdrucken auf, wenn diese nicht auf rein photomechanischem Wege erzeugt sind. Dove wandte das stereoskopische Vergleichsverfahren besonders bei der Prüfung von Papiergeld an: „Legt man ein Wertpapier und seine Kopie nebeneinander in das Stereoskop, so wird eine für das bloße Auge nicht sichtbare Differenz in dem Abstand der Worte sieh sogleich durch ein Hervortreten aus der Ebene des Papiers merklich machen. Durch dieses Verfahren ist also ein einfaches und scharfes Mittel gegeben, eine Kopie eines Druckes oder einer Zeichnung als solche zu erkennen". Tatsächlich hat man in jener Zeit zum Gebrauch im Stereoskop typographische Sätze mit ganz geringen Unterschieden gefertigt und konnte bei der Betrachtung die einzelnen Wörter über oder unter der Papierebene, auch treppenförmig gestaffelt, wahrnehmen ( siehe Abb.).

                                         2.

Große Stereobilder.

Geringe Größen- und Helligkeitsunterschiede der beiden stereoskopischen Teilbilder treten auch heute noch auf wie vor Jahrzehnten; geringe kannten Ursachen. Die Anpassungsfähigkeit der Augen hilft über diese kleinen Fehler mühelos hinweg. Der Ausgleich der Bildgrößen ist nur bis zu einem gewissen, an sich kleinen Größenunterschied möglich. Übertreibt man die Größenunterschiede, so besteht keine normale Vereinigungsmöglichkeit der beiden Bilder. Sieht man jedoch ein ganz kleines Teilbild durch ein vergrößerndes optisches System in der gleichen Größe des großen Teilbildes, so ist die Vereinigungsmöglichkeit wieder vorhanden. Hat eine derartige Stereoskopie einen Zweck? Swan , wie H. W. Vogel aus dem Jahre 1862 berichtet (Die Photographie auf der Londoner Weltausstellung 1862, S. 67) kombinierte Teilbilder im Größenverhältnis von 8:1 und konnte auf diese Weise mit dem bewaffneten Auge, ungehindert durch das zweite Stereobild, ein ganz großes Teilbild betrachten, war also auf diesem Wege dem Zwang der geringen Teilbildbreite entronnen:

                                        3.

Das „Casket-Porträt".

Das Stereobild im „Schmuckkästchen" könnte auch wohl noch heute Beachtung finden und zur Verbreitung der Stereoskopie werbend beitragen, wie es im Jahre 1866 Begeisterung erweckt hat. Es handelt sich um eine Ausführungsform, bei welcher das Doppelbild und der Betrachtungsapparat fest und auf besondere Art miteinander verbunden sind. Der Erfinder war Henry Swan in London; zur Ausbeutung der Erfindung wurde eine Aktiengesellschaft gegründet. Die ersten Bildproben sollen mit acht englischen Pfunden bezahlt worden sein; kleine Porträts kosteten 21, größere 54 Schillinge. In meiner jahrzehntelangen Sammeltätigkeit ist mir ein „Casket-Porträt" leider noch nicht begegnet, vielleicht sind wegen des hohen Preises nicht allzu viele angefertigt worden. Zwei ungleichschenklige rechtwinklige Glasprismen (spitzer Winkel etwa 40 Grad) werden mit der Hypothenuse aufeinandergelegt. Die zwischen den Glasflächen eingeschlossene dünne Luftschicht bewirkt Spiegelung und ermöglicht so die optische Vereinigung der beiden stereoskopischen Teilbilder h und (seitenverkehrt) h'(siehe die Zeichnung) zu einem plastischen Bilde, das in der Glassäule zu schweben scheint. Die beiden Teilbilder müssen durchsichtig und in ihrer Stellung genau aufeinander abgepasst sein. Damals übertrug man Kollodiumhäutchen, heute würde man wohl Filmdiapositive aufkitten können. Über die optischen Belange dieses eigenartigen Stereoskops berichtete M. v. Rohr in seinen „Binokularen Instrumenten" (1907, S. 121).

                                         4.

„Laßt Blumen sprechen!"

Am 6. Juni 1871 wurden in der Sitzung des Berliner „Vereins zur Förderung der Photographie" Stereobilder von Blumensträußen gezeigt, in deren Blumen Kinderfigürchen saßen. Es wird nicht mitgeteilt, ob diese „künstlerischen" Erzeugnisse großen Beifall fanden, es wird jedoch angegeben, der Effekt sei dadurch erzielt worden, daß man kleine photographierte Kinderbilder ausschnitt, in die natürlichen Blumen einklebte und diese dann stereoskopisch aufnahm (Photogr. Mitteilungen, B. 1872. S. 81).

                                         5.

Panoramen-Stereobilder.

Nicht das, was der Name zu verkünden scheint, wurde im Jahre 1868 beschrieben! Es war zu einer Zeit, als man sich nach mancherlei Irrwegen klar darüber geworden war, daß die beiden Aufnahmeobjekte normalen Augenabstand haben müssen. Da veröffentlichten im Sommer 1868 in London Warner und Murray „eine neue Form von Stereoskopen und Stereoskopenbildern" (Photogr. Mitteilungen 5. 1869 S. 97). Die Bild breite war nach dem genannten Grundsatz auf etwa 3 Zoll begrenzt. „Die Höhe des Bildes und die vertikale Ausdehnung, welche dasselbe erlangen könnte, wird durch nichts Derartiges beschränkt, und daher können Ansichten, denen man bei den gewöhnlichen Instrumenten nicht Gerechtigkeit widerfahren lassen kann, hier zur vollen Geltung kommen. Bei Aufnahme des Hauptschiffs oder eines Nebenschiffs eines Domes, wo die zur Seite liegenden Teile durch die vorstehenden Säulen an Wichtigkeit verlieren und wo das Bild nur darunter leiden würde, wenn es weiter reichte als bis zu den Säulen, ist es oft von guter Wirkung, wenn die ganze Höhe vom Fuße bis zum Kapitäl jedes einzelnen Pfeilers und zugleich die erhabene Arbeit der gewölbten Decke im Bilde enthalten ist. Diese Unannehmlichkeiten werden bei der neuen Form vermieden, da hier jede Hälfte des Bildes eine Höhe von 5 1/2 Zoll und eine Breite von 2 3/4 Zoll hat". So lauteten die Angaben aus jener Zeit.

                                         6.

Das Einzelbild soll plastisch wirken.

Unwillkürlich wird man an mancherlei Versuche der Jetztzeit erinnert, das einfache, also eindimensionale Kinobild auf der Leinwand plastisch erscheinen zu lassen. Ein solcher Täuschungsversuch wurde bereits im Jahre 1856 beschrieben (Horn's Photogr. Journal 5. 1856 S. 80, nach „La Lumiere"). Professor Zinelli schlug damals vor: „Das zu betrachtende Bild soll in senkrechter Stellung etwa 3-4 Meter von einem Fenster entfernt auf einem Gestell angebracht werden, damit das Lieht diagonal, also mehr von oben herab auf selbes falle. Man betrachtet das Bild sodann durch ein Theater-Doppelperspektiv, indem man hierbei durch Versuche bestimmt, welche die geeignetste Entfernung zur Betrachtung ist, denn erstere variiert nach dem Perspektiv und den Eigenschaften der Augen, weshalb man sich die Mühe nicht verdrießen lassen soll, den geeigneten Standpunkt aufzusuchen; denn man wird hierfür reichlich belohnt, wenn man das Bild den Charakter eines stereoskopischen Bildes mit dem Relief und der Perspektive der Natur annehmen sieht". Über die Bildgröße selbst ist nichts gesagt; doch geht aus den weiteren Ausführungen hervor, daß selbstverständlich entsprechend große Einzelbilder betrachtet werden sollten.

                                        7.

Gefälschte Stereobilder.

Dr. Johannes Müllerin Freiburg/ Breisgau berichtete 1859 (Dinglers Polytechn. Journal, 153. S. 75) über gefälschte Stereoaufnahmen des Mondes: „Dieser Tage kamen mir für das Stereoskop bestimmte Ansichten des Vollmondes zu Gesicht, welche bei etwas starken Kontrasten zwischen Hell und Dunkel im Stereoskop einen ausgezeichnet plastischen Effekt gaben. Dieser Umstand aber erregte mir Zweifel, ob diese aus Paris stammenden Bilder wirklich Photographien des Mondes seien? Um darüber zur Gewißheit zu gelangen, verglich ich die beiden Bilder und fand sogleich die auffallendsten Verschiedenheiten, welche eben den stereoskopischen Effekt bedingen. Ein Gebirgsring z. B., von welchem strahlenförmig weiße Streifen ausgehen, war in dem einen Bilde ungefähr um 1 cm weiter vom Mondrande entfernt als im anderen. Da uns nun aber der Mond stets dieselbe Seite zukehrt, so können zwei wirkliche Mondphotographien nie eine bedeutende Differenz zeigen; die beiden fraglichen Photographien sind also gar keine Mondphotographien, was auch die Untersuchung mit der Lupe aufs unzweifelhafteste bestätigt. Wahrscheinlich sind diese Photographien nach einer Kugel gemacht, welche dem Vollmond ähnlich angemalt war". Mir selbst begegnete wohl nur einmal ein falsches Stereobild, zur Ergänzung einer Reihe von Familienbilder hergestellt; ich berichtete an früherer Stelle darüber.

                                         8.

Das lebende Stereobild.

Unter den Vorläufern der Kinematographie spielt das „Lebensrad" eine beachtliche Rolle; es ist fast gleichzeitig von dem Belgier Joseph Antoine Plateau und dem Österreicher Simon Stampfer anfangs 1833 erfunden worden. Es fand unter den Namen Phantaskop (Plateau), Phänakistiskop, Stroboskop (Stampfer) weite Verbreitung hauptsächlich als Kinderspielzeug physikalisch optischer Grundlage. Die Erfindung bestand darin, daß man einen in Bewegung befindlichen Gegenstand in 8 oder mehr verschiedenen Bewegungsstellungen rings auf eine Scheibe zeichnete und an dem Rande der Scheibe über jeder Figur ein kleines Loch anbrachte. Die Scheibe selbst setzte man auf eine Achse, auf welcher sie sich leicht drehen ließ. Setzte man dann die Scheibe vor einem Spiegel in schnelle Drehung in der Art, daß sich die gezeichneten Bilder dem Spiegel gegenüber befanden und betrachtete man diese Spiegelbilder durch die am Rand der Scheibe angebrachten Öffnungen, so erschienen die ruckweise sichtbar werdenden Zeichnungen der fortschreitenden Bewegung in einer Art, als ob sich der abgebildete Gegenstand selbst bewegte. Es handelt sich also um gezeichnete Bilder; denn zur Zeit der Entstehung des Lebensrades war die Photographie noch nicht erfunden und auch in der Folgezeit konnte die Photographie noch keine schnellen Bewegungsvorgänge in Einzelstufen festhalten. Wir entfernen uns also im Folgenden von der photographischen Stereoskopie und wenden uns gezeichneten Bildern zu. A. Claudetschilderte im Jahre 1865 (Liesegang's Photogr. Archiv 6. 1865 S. 365) die Verwendung des Lebensrades zur Darstellung beweglicher plastischer Bilder. Eine einigermaßen befriedigende Lösung des Problems soll nur dem bekannten Pariser Optiker Duboscq gelungen sein. „Er brachte die beiden zum stereoskopischen Eindrucke gehörigen Reihen von Bildern in zwei Zonen auf der rotierenden Scheibe an, eine über der anderen. Dann befestigte er in der Höhe, in welcher die Löcherreihe vorbeigeht, zwei kleine Spiegel auf der dem Auge zugewendeten Seite so, daß das Bild der unteren Zone, welches gerade vor das Loch tritt, nach der einen und das der oberen Zone nach der anderen Linse des Stereoskopes hin reflektiert wird. Auf dieser erblickt während der Umdrehung jedes Auge nur die für dasselbe bestimmte Reihe der stereoskopischen Zeichnungen und die Figuren erscheinen zugleich körperlich und bewegt. Duboscqhat aber auch noch eine andere Form des Phänakistikops angegeben. Statt der schon von Plateau benutzten Scheibe wendet er einen um seine vertikale Achse rotierenden Zylinder (nach Art der auch bereits auf das Jahr 1833 zurückgehenden „Wundertrommel") an, auf dessen Innenseite in zwei übereinanderliegenden Zonen die stereoskopischen Abbildungen und zwischen beiden Zonen die zur Betrachtung nötigen Öffnungen in der Zylinderwand angebracht sind. Dann werden ebenso wie bei der ersten Anordnung die Bilder der einen Reihe nach der einen und die der anderen Reihe naci der andern Stereoskoplinse durch zwei kleine passend gestellte Spiegel hin reflektiert und so der stereoskopische Eindruck mit dem phänakistiskopischen vereinigt". Claudet, dem wir die vorstehende Schilderung verdanken, bemühte sich, einige optische Mängel der beiden Konstruktionen zu beheben und schilderte ausführlich seine Versuche, immer an gezeichneten Bewegungsstufen, ohne die Photographie zu erwähnen, die erst später und in anderen Händen Bilderreihen schnell sich abspielender Bewegungsvorgänge zu schaffen vermochte. Das Streben, auch das lebende Bild plastisch erscheinen zu lassen, geht also auf die einstmalige Blütezeit der Stereoskopie zurück. Heute, nach 70 Jahren, ist eine endgültige Lösung dieses Problems noch nicht gefunden.

                                        VII. 

Schlußwort.

Vorstehende Ausführungen aus der Frühgeschichte der Stereoskopie wurden in der Sitzung der „Deutschen Gesellschaft für Stereoskopie" in Berlin am 20. Juni 1935 vorgetragen und durch Vorlage entsprechenden Bildmaterials aus meiner historischen Sammlung unterstützt. Auf geäußerte Wünsche hin erfolgt der Abdruck meines Vortrages in der Zeitschrift „DAS RAUMBILD". Ich möchte auch bei dieser gedruckten Wiedergabe nicht versäumen das zu wiederholen, was ich meinem Vortrag einfügte, daß ich die Gemeinde der Stereoskopiker beglückwünsche zu ihrer neuen Zeitschrift, die schon einen ganz frühen Vorläufer hatte im Jahre 1858 und die endlich wieder als selbständiges Organ die Belange der Stereoskopie in Wort und Bild von der wissenschaftlichen Warte aus und in der praktischen Durchführung vertritt und an trefflich gewählten Bildbeispielen immer wieder eindringlich vor Augen führt, welche außerordentlichen Vorteile das stereoskopische Bild der Kunst, Wissenschaft und Technik bietet.

 Veröffentlich wurde dieser Vortrag, gehalten von Professor Stenger vor der „Deutschen Gesellschaft für Stereoskopie“ am 20. Juni 1935 in Berlin, in der Zeitschrift „DAS RAUMBILD“, Heft 10, 11 und 12, Jahrgang 1935, Raumbildverlag Otto Schönstein. (© Text überarbeitet von  D. Schulte)